Uraufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus: Kirill Serebrennikov inszeniert »Der Schneesturm« seines russischen Landsmanns Vladimir Sorokin als ein Delirium der Sinne. Für unseren Kritiker Andreas Wilink ist es ein bisschen viel Gewese.
Nicht leise rieselt der Schnee, sondern laut, aufgestöbert von Windmaschinen und Gebläsen, die pfeifen, rauschen und surren. Es ist was los auf der Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses: Kirill Serebrennikov, der wie Vladimir Sorokin ebenfalls aus Russland stammt, ebenfalls in Deutschland Zuflucht genommen hat, der Filme dreht, Opern und Schauspiel inszeniert und dabei »Friends« mit in die Ensembles bringt, lässt die Puppen tanzen und auch sprechen. Lässt ein perkussives Klangwerk tönen und ebenso eine Spielgruppe von Musiker*innen, Tänzer*innen, Sängerinnen auftreten. Nach der Uraufführung bei den Salzburger Festspielen ist die Koproduktion »Der Schneesturm« am Gustaf-Gründgens-Platz hereingeschneit.
Sorokin ist ein Erbe und jemand, der die Erbschaft verzehrt, verjubelt, mit ihr aast, heckt und wildert und Hand an sie legt. Er spielt federnd mit dem 19. Jahrhundert und der Größe seiner Meister, die Gogol, Puschkin, Tolstoi und Tschechow heißen, ist ein Seher seiner Gegenwart und prescht als Postmoderner in eine sich irrsinnig gebärdende Zukunft. Der Schriftsteller mit dem riesigen Werk, der 1955 bei Moskau geboren wurde und seit Putins Krieg gegen die Ukraine und Europa 2022 im Exil in Berlin lebt, stürmt in seinem Roman formal und narrativ die Barrikaden.
Zwischen Schneeflocken und Plastikpferdchen
Der Landarzt Garin will eine Epidemie kurieren, die aus den Befallenen krallenbewehrte Zombies werden lässt. Dafür will er an den Ort reisen, der nun in der deutschen Fassung Langenweiler heißt, wo das Übel grassiert: als Exorzist der Wissenschaften und Macher. Im unaufhörlichen Schneesturm heuert er einen Kutscher an, dessen Schlitten die erste Kuriosität einer an Merkwürdigkeiten und Spukhaftem reichen Hindernisfahr ist, die sich – Werst um Werst – auch als klassisch-romantische Grand Tour und deren aggressive Parodie zeigt sowie zur literarischen Dystopie aufwächst.
In Düsseldorf mutiert das Gefährt zum Zweisitzer auf kreisrundem Podium, dekoriert mit kleinen Plastikpferdchen. Die Köpfe der beiden Männer stecken dann in gläsernen Ballons, an denen sich ihre Nasen plätten, während ihre Konterfeis mit Hilfe von Kameras auf zwei ebenfalls runden Projektionsflächen erscheinen und außerdem noch hoch oben am Bühnenportal. Eine weitere Live-Kamera filmt an einem bühnenbreiten Tisch die Welt im spielzeughaft Kleinen, als sei sie Lummerland. Alles doppelt und dreifach: ein Schauplatz multipler Sinneseindrücke und Parallelaktionen.
Sogar der Schneesturm personifiziert sich und geistert und girrt als expressives Schneeglöckchen, Schneeflöckchen einher, trägt feine weiße Wäsche, ist mal mehr Mann, mal Frau oder chinesische Sirene und im Ganzen ziemlich Viele. Das namenlos Ominöse bei Sorokin hat sich so in der Kleiderkammer ausstaffiert.
Die diversen Heimsuchungen, Rauschzustände, Kontroll- und Orientierungsverluste Garins, die sich auf seinem höllisch rotglühenden Trip ins Metaphysische als Märchen, Burleske, Ballade und Parabel kostümieren, führen an seinem Ziel vorbei, wobei die Erkenntnis, dass die zivilisatorische Ratio eine Schimäre sein könnte, vielleicht doch zielführend ist. Die weht übrigens auch Thomas Manns Held Hans Castorp im großen Schneekapitel auf dem »Zauberberg« an. Dass bei Serebrennikov der Arzt Garin offenbar Deutscher ist, mag mehr historische Reminiszenz als aktuelle Referenz sein.
Wie im Finale seiner Kino-Erzählung über »Tschaikowskys Wife« entwirft Serebrennikov hier ein Delirium der Sinne, der Wunschträume, Drogenvisionen, Lust- und Schreckensbilder. Und er gestaltet sein Pathos des Aufruhrs, wie wir es auch in seiner Aufführung »Legende« für die Ruhrtriennale entlang der filmischen Wunderkammern des von ihm bewunderten armenischen Großkünstlers Sergey Paradjanov erleben konnten.
Mit seiner ungezähmten Fantasie scheint er der ideale Regisseur für Sorokin – oder aber vielleicht gerade deshalb nicht. Eins plus Eins ergibt manchmal Vier, aber manchmal auch minus Eins. Es ist ein bisschen viel Gewese und in der Summe arg wenig, auch wenn das in Saft stehende Powerplay von August Diehl als Garin und die Possen seines ‚Sancho Pansa‘ Perkhusha (Filipp Avdeev) den Elementen und Widrigkeiten tapfer trotzen.
»Der Schneesturm«
Vorstellungen: 14. September, 31. Oktober, 14., 28. und 29. November