Wir wollen nicht vom Kino ablenken, sondern zum Kino hinlenken, zu dem, was es war und – wieder – ist. Bereits zum 44. Mal stellen wir einen Klassiker des deutschen und internationalen Films vor, der nicht immer zum Kanon gehört, aber eine Rarität und Kostbarkeit ist. Bei einem der Anbieter lassen sie sich ausleihen, als DVD kaufen, zur Not bei youtube besichtigen. Nur Netflix-Serien zu schauen, verengt den Blick.
So viele Rebellen! Hollywood und Anti-Hollywood, Star und Antistar sind Kategorien, bei denen sich Positiv und Negativ ineinanderschieben. Marlon Brando und James Dean, Peter Fonda und Jack Nicholson, Al Pacino und Dustin Hoffman und dann – zwei Jahrzehnte weiter – River Phoenix und Keanu Reeves. Verlorene Jungen, mal stärker, mal schwächer, aber immer auf der Suche nach Heimat, nach Müttern und Vätern beziehungsweise nach Mannwerdung in einem Land, das früh seine Unschuld verloren und den Colt zu seinem National-Fetisch gemacht hat und sich an seiner gloriosen Gott-Erwähltheit berauscht. Wie Jimmy Dean ist River Phoenix, der 1993 mit 23 Jahren starb, in unserer Vorstellung forever young. Der Tod hat sie konserviert.
Gus Van Sant erzählt eine Geschichte aus der Stricher-Szene mit Obdachlosen, Junkies, Freaks und psychedelischen Philosophen der Straße; eine Coming-of-Age-Geschichte und ein verzweifelt vergebliches Roadmovie, das bis nach Rom und auf einen Bauernhof in der Campagna führt. Es ist die Geschichte einer unmöglichen Liebe und ein Drama, das sich auf Shakespeares »Heinrich IV.« und »Heinrich V.« bezieht und Falstaff zitiert. Der tritt hier auf als Bob, »König der Aussätzigen« und haust zusammen mit den Jugendlichen und streunenden Hunden in einer Abbruchbude. »My own private Idaho« spielt mit dem Dokumentarischen und Experimentellen, schleift dabei die Barrikaden des Mainstream zum Underground und der Subkultur und begründete so 1991 das New Queer Cinema.
Ein Film, der dagegen ist
Gus Van Sant hat in einem gewaltigen Innovationsschub ein Meisterwerk gedreht, das seinen Meisterstatus aufrührerisch unterläuft, aushebelt, widerlegt. Ein Film, der »Off« und dagegen ist. Im Hintergrund erklingt zweimal die patriotische Hymne »America the Beautiful«. Wie bei Edward Albee in »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« werden die amerikanischen Mythen aufgerufen, um sie zu demontieren. Wir dürfen davon ausgehen, dass Donald Trump und JD Vance diesen Film und seine Outcasts hassen – das adelt ihn. Er gehört zu den Gründungsdokumenten des Anderen Amerika, das heute mehr denn je zählt.
Mike und Scott verdienen in Portland/Oregon ihren Unterhalt als Stricher: Mike, weil er nichts hat und das Geld braucht, Scott, weil er eine Weile so tut, als ginge es ihm genauso. Aber er hat einen reichen Vater, der obendrein Bürgermeister ist, und wird an seinem kurz bevorstehenden 21. Geburtstag ein Vermögen erben. Seine Provokation ist eine zeitlich begrenzte strategische Operation. Zurück im gesellschaftlich Etablierten, verrät er seine Jugend und seine Freunde. Der smarte Scott hatte die Wahl. Mike Waters, den River Phoenix zu Herzen gehend darstellt, hat sie nicht. Krank vor Sehnsucht nach seiner Mutter und dem Holzhaus seiner Kindheit, scheint er sich in seine kurzen Absencen zu flüchten, um sich träumend davon zu stehlen. Ein scheiterndes Leben. »Schönen Tag noch« wünscht Gus Van Sant im Abspann.
Und dann ist da noch Udo Kier als Hans Klein, der in einem Hotelzimmer eine dämonische Soloperformance für Mike und Scott hinlegt und mit ihnen eine – von der Kamera in Standfotos zerlegte – Sexorgie feiert. Für Kier wurde dieser Film auch sein Türöffner in die amerikanische Kino-Karriere.
Am Anfang sahen wir Mike auf einer schnurgeraden Straße in der Prärie von Idaho stehen. Am Ende liegt er dort in einem Schlafanfall, zwei vorbeifahrende Männer berauben ihn um sein Weniges, ein dritter bettet ihn in seinen Wagen. »Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.«