Ulrike Seybold ist merklich stolz, denn die Geschäftsführerin des Landesbüros Freie Darstellende Künste in Dortmund hat einen Coup gelandet: Spitzenkandidat*innen in 31 nordrhein-westfälischen Großstädten hatte ihr Team angeschrieben und um die Beantwortung von drei Fragen in einem kurzen Video gebeten. Thema: Situation und Perspektive der Freien Szene vor Ort. Ziel: In einem Online-Voting soll die oder der weitblickendste Politiker*in ermittelt werden. Binnen kürzester Zeit landeten mehr als 70 Einsendungen in ihrem Postfach. Mit so viel Resonanz hatte Seybold nicht gerechnet.
Seit Mitte August stehen die Filme im Netz und ermöglichen den Vergleich: Wer kann über die Freie Szene seiner oder ihrer Stadt mehr sagen als die üblichen Floskeln von Vielfalt, Innovation und Lebendigkeit? Wer kennt die konkreten Probleme jenseits des Wunsches nach mehr Geld und billigen Räumen? Und vor allem: Wer hat dafür auch echte Lösungen? Von Aachen bis Bielefeld machen Kandidat*innen aller Kommunen und demokratischen Parteien mit. Die meist dreiminütigen Handyfilme zeigen oft Erwartbares, aber es gibt auch so manche Perle zu entdecken. Rein formal ragt ein Paderborner heraus, der mit seiner professionell gereimten Antwort jedem Poetry Slam im Land zur Ehre gereichte.
Eins haben fast alle Statements gemeinsam: Die Pandemie und ihre Folgen. Tatsächlich werden die alle Oberbürgermeister*innen und Stadtverordneten im Herbst erst mal vor einem finanziellen Scherbenhaufen stehen, dessen konkretes Ausmaß nur zu erahnen ist: »Viele Städte verzeichnen Rückgänge von mehr als 70, in der Spitze sogar über 80 Prozent«, sagte die stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Städtetages, Verena Göppert, bereits Mitte Juli über die Gewerbesteuer. Die war mit zuletzt 38 von insgesamt 211 Milliarden Euro bei den NRW-Kommunen der größte Einzelposten auf der Einnahmenseite. Sie ist aber auch wie kein anderer abhängig von der Konjunktur, und die wird 2020 mit einem Rekordminus abschließen. Deshalb wurde im Mai beschlossen, die Haushalte für das kommende Jahr erst im Oktober und damit rund vier Monate später als üblich aufzustellen. Denn im September gibt es eine außerordentliche Steuerschätzung. Alle Beteiligten wissen schon jetzt: Das wird ein rabenschwarzer Tag, vor allem für die Kämmerer in den Städten und Gemeinden.
Weniger Zuschüsse an die freie Szene
Wenn die Gewerbesteuereinnahmen aufs Jahr betrachtet auch »nur« um ein Drittel schrumpfen, ergibt allein das ein Minus zwischen fünf und zehn Prozent in den kommunalen Kassen. Zwar haben Bund und Länder im Frühjahr vereinbart, den Städten die Verluste des zweiten Quartals zu ersetzen, doch das wird das Gesamtminus nicht auffangen können: Auch die Einnahmen aus Umsatz- und Einkommensteuer fallen absehbar geringer aus, während die Ausgaben vor allem im Sozial- und Gesundheitsbereich sogar gestiegen sind.
Für die sogenannten Freiwilligen Leistungen in den kommunalen Etats – zu denen auch die Kulturförderung gehört – heißt das nichts Gutes. Vielleicht kommen Bibliotheken, Museen oder Theater in kommunaler Trägerschaft samt ihrer meist festangestellten Mitarbeiter*innen noch mal mit einem blauen Auge davon. Doch die Freie Szene muss sich – entgegen aller Versprechungen, nicht nur im Wahlkampf – schon jetzt auf deutlich weniger Zuschüsse einstellen. Da können die Oberbürgermeisterin oder der Kämmerer noch so kulturaffin sein, die Kulturdezernent*innen und -aussschussmitglieder noch so einflussreich: Wenn im Herbst das große Streichkonzert einsetzt, bleibt die Kultur nicht außen vor, im Gegenteil. Und die schwächsten Glieder der Kette sind dabei stets jene Initiativen, Einrichtungen und Künstler*innen, die sich ohne institutionelle Förderung vor allem durch Projektmittel finanzieren. Die gibt es aber nur von Jahr zu Jahr und nach Kassenlage – oder eben nicht.
Im Video-Contest des Dortmunder Landesbüros versprechen die Kandidat*innen noch unisono die Stabilisierung, Stärkung und Weiterentwicklung der Freien Szene. Geschäftsführerin Ulrike Seybold sagt dazu nur: »Die vielen und extrem unterschiedlichen Videos bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für die kulturpolitische Arbeit des Landesbüros und unserer Mitglieder vor Ort.« Zwischen diesen Zeilen steht eine deutliche Aufforderung an Künstler*innen und Kulturinitiativen, die Politik in ihrer Stadt oder Gemeinde nach der Wahl in die Pflicht zu nehmen.
Eines ist klar: Vor der Kultur liegen gerade im städtisch geprägten NRW schwere Jahre. Durch das unkalkulierbare Geschehen rund um das Virus ist die Situation zudem so speziell, dass man aus bisherigen Erfahrungen mit Parteien und Kandidat*innen kaum ableiten kann, wer sich nach der Wahl dann wie verhalten wird – und kann. Ein OB-Anwärter aus Düsseldorf hat diese erwartbare Unerwartbarkeit in einen besonderen Slogan gepackt: »Ist das weg oder kann das Kunst?«