Wir sind immer von ihr umgeben – und beachten sie so wenig: Architektur. Das liegt auch an unserem Bildungssystem, meint die Recklinghausener Architektin Ursula Thielemann und führt Kinder und Jugendliche an die gebaute Umwelt heran.
Wirtschaft! Ausgerechnet beim Thema Wirtschaft reißen die Mädchen und Jungen ihre Arme nach oben. Zwei Gruppen wollen das Thema so unbedingt bearbeiten, dass am Ende eine Runde »Schnick Schnack Schnuck« entscheiden muss. Die Mädchen gewinnen und so ziehen sie an diesem Freitag durch die Recklinghäuser Innenstadt und erfassen, wie viele Cafés, Modegeschäfte und Handyläden es gibt und was davon zu einer Kette gehört.
Die 9. Klasse eines Gymnasiums in Recklinghausen nimmt an einer Stadterkundung der Architektin Ursula Thielemann teil. »In der Schule lernen die Kinder nichts über Architektur«, sagt sie. Dabei sei doch sie die Kunstform, die uns ständig umgebe und deshalb einen großen Einfluss auf das eigene Leben habe. »Architektur kann krank machen. Wenn man sich ständig in Gebieten aufhält, wo man sich nicht wohlfühlt, wird man aggressiv«, so die Architektin, »in meinen Workshops geht es daher um Wahrnehmung und dass die Jugendlichen ein Feeling dafür bekommen, wo sie sich wohlfühlen und wo nicht«.
Die Schülerinnen entdecken neue Facetten ihrer Heimatstadt: Dazu gehöre auch, an Orte zu gehen, an denen man bisher nicht war. Dazu: »Ich merke, wie viele kleine Geschäfte es gibt – in die ich eigentlich sonst nicht gehe« – das seien oft erste Erkenntnisse ihrer Entdeckungstour. Auch Interviews mit Personal in einem Brillenladen und einem Modegeschäft würden die Jugendlichen führen – dazu müssen sie anhand eines Fotos eine Gasse finden. Da kann nur eine ältere Passantin helfen, die sie nach einigem Zögern ansprechen. Sehr schnell schickt diese die Mädchen auf den richtigen Weg. »Das ist wie eine Schatzsuche«, freuen sie sich über ihren Erfolg.
Geräusche der Stadt
In insgesamt fünf Gruppen untersuchen die Schüler*innen neben Wirtschaft und Handel auch den Verkehr und den dadurch entstehenden Lärm, dazu historische Gebäude, Grünflächen und die Stadtplanung. Die Mutter einer der Schüler hatte dieses zweitägige Seminar unter dem Titel »Ein Quadratkilometer Stadterkundung« organisiert, als späten Ersatz für einen wegen Corona ausgefallenen Schulausflug. Unterstützt wird es von Baukultur NRW und gemeinsam mit der Schreibpädagogin Katja Otulak durchgeführt. Denn die Jugendlichen müssen nicht nur die Stadt erforschen, sondern sich auch spontan literarisch darüber ausdrücken. So schreibt die Jungs-Gruppe, die mit einer App den Verkehrslärm erfassen soll, zunächst ein Gedicht über die Geräusche der Stadt. Eigentlich sind nur einzelne Wörter gefordert, aber einige der Jungen verfassen lange, kreative Gedichte.
Nicht nur die Gruppendynamik lässt sich hierbei gut beobachten, auch die Beschränkungen, die sich die Jugendlichen selbst auferlegen. Zwar kennen sie aus dem Deutschunterricht unterschiedliche Reimschemata, aber sich frei auszudrücken, sind sie nicht gewohnt, ihre Gedichte sind ihnen peinlich. »In der Schule wird sofort alles benotet«, sind sich Katja Otulak und Ulrike Thielemann einig, aus Angst vor einem Urteil beschränkten sich die Schüler*innen daher selbst. »Es wird ihnen zu wenig Freiheit gegeben«, meint Ulrike Thielemann, »ständig fragen sie sich: darf ich das so machen?« Ihrer Beobachtung nach nutzen Lehrer*innen seit der Corona-Pandemie verstärkt Arbeitsblätter, die einen einzigen Lösungsweg bevorzugen. »Das ist eine Katastrophe, weil die Kinder nicht lernen, ihren Kopf einzuschalten«, echauffiert sie sich.
Eigentlich ist Ursula Thielemann seit zwei Jahren in Rente, aber die Workshops und Seminare für Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihres Labors für Kunst und Architektur in Recklinghausen setzt sie fort. Normalerweise laufen ihre Workshops länger, oft sogar über ein Halbjahr in der Schule. So hat sie mit einer 6. Klasse einer Realschule in Gladbeck ein Haus von zehn mal zehn Metern entworfen. Unter einem Dach im Schulhof wurde der Grundriss mit Klebeband markiert, Sofa, Küche und Duschtasse hinein visualisiert. Beim Übertragen ihres Entwurfes in das CAD-Programm allerdings hatten die Schüler*innen Schwierigkeiten, den Maßstab zu begreifen: »Das Bett war auf einmal 100 Quadratmeter groß«, amüsiert sich Ursula Thielemann. Ihre Lösung: Das Bauen von Modellen. Basteln ist ohnehin etwas, was sie von der Kita bis zur Oberstufe gerne mit Kindern und Jugendlichen macht. »Dass sie stöhnen und nicht mitmachen möchten, erlebe ich eigentlich nicht«, berichtet sie, »ich erlebe eher, dass sie das nicht können, zum Beispiel in der 9. Klasse nicht wissen, wie man mit Schere und Kleber umgeht«.
Ursula Thielemann selbst trainiert das Haptische schon mit den Kleinsten: »Architektur trifft Kita« heißt das Programm, bei dem sie experimentelle Architektur im Kindergarten erprobt und mit den Kindern ganze Stadtlandschaften bastelt. »Das ganze Systemspielzeug bietet keinen Raum für Kreativität mehr«, stellt sie fest – und setzt in ihren Workshops auf Pappe, Holzspatel und Pfeifenreiniger, damit ließe sich von Fabelwesen bis zu Katapulten alles darstellen.
Die Neuntklässler*innen in Recklinghausen haben einen Vormittag lang die Stadt erforscht: Wie von Ursula Thielemann empfohlen, an den Häusern entlang nach oben gesehen, die zahlreichen im Katasterplan eingezeichneten Grünflächen mit der Realität verglichen und für eine Geschichte einen Fuhrmann aus dem Jahr 1490 mit einem DHL-Fahrer zusammengebracht. »Das sind junge Leute, die hier groß werden«, sagt Thielemann, »mit einem solchen Projekt können sie am eigenen Leib erfahren, wie die Stadt tickt.«
Mehr Infos zu Ursula Thielemanns Labor für Kunst und Architektur: ka-labor.de