Eine kannibalistisch-sadistische Frau, die Kindern auflauert. Eine Seniorin, die von Wildtieren verspeist wird oder eine blonde Schönheit, die in einem Turm eingesperrt ist – rein inhaltlich würde man Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und Rapunzel eher im Nachtprogramm eines Bahnhofskinos vermuten, als denn im deutschen Märchenwald.
Sicherlich, nicht alle überlieferten Märchen sind dermaßen brutal. Die Bilder in den Köpfen der jungen Zuhörer*innen taten zwar ihr übriges, ansonsten wurde stets darauf geachtet, die Geschichten nicht zu drastisch zu illustrieren. Stattdessen bevorzugte man romantisierte Darstellungen, der deutsche Wald – und für die düsteren Märchen: der dunkle Tann – wurde zum Schauplatz der Geschichten, ob auf den Bildern in den Märchenbüchern oder in den Märchenwäldern. Schließlich geht es um einen Sonntagsausflug mit der ganzen Familie, die sich im Mischwald die Höhepunkte der deutschen Fantasy-Literatur anschauen wollen, und das möglichst jugendfrei.
Gruselig ist dabei manchmal nur die Gestaltung. Viele der Märchenwälder sind in die Jahre gekommen, und mit ihnen die Figuren und die Technik. So blickt man durch die Fenster kleiner, mit Spielszenen eingerichtete Häuschen. Auf Knopfdruck beginnen sich dann etwa Schneewittchen und die sieben Zwerge zu bewegen und ruckeln auf einem vorgegebenen Pfad durch die Hütte, Lichter werden angeschaltet oder Mechanismen wie ein Wasserrad aktiviert. Manchmal erklingt Musik oder eine geschmeidig-sonore Märchenerzählerstimme, die erklärt, was Sache ist. Das Design schwankt zwischen niedlich, angestaubt und etwas unheimlich, kann aber durchaus als ästhetisches Gesamtkunstwerk verstanden werden.
Wenn man bedenkt, dass der älteste deutsche Märchenwald im thüringischen Wünschendorf bereits 1927 gegründet wurde, ahnt man, aus welchen Zeiten diese Art des Geschichtenerzählens stammt. Als mechanisch animierte Puppen noch die angesagtesten Special-Effects waren, die man zeigen konnte. Der 1931 eröffnete Märchenwald Altenberg im rheinisch-bergischen Kreis hat in den letzten Jahren versucht, das Image etwas aufzufrischen, ohne die Geschichte zu vergessen. Der Retro-Faktor ist schließlich nicht zu unterschätzen.
Architektonisch sind die 20 Märchenszenen weit vom Bretterbudenimage entfernt, die Türme und Stadttore wurden als echte Mittelalter-Gebäude im geschrumpften Maßstab gebaut. Dazu gibt’s Bergische Waffeln oder Frittiertes, wie es sich für einen Ausflug gehört, und die Besucher*innen können in schicken Hotelzimmern übernachten. Zudem feiert man lässig und affirmativ die liebevoll-schrullige »Gebrüder Grimm Ehrenhalle«, eine 1956 eröffnete Attraktion im Märchenwald-Café.
Zu jeder vollen Stunde bewegen sich die »Tanzenden Fontänen« zu klassischer Musik und erzeugen dabei farbig illuminierte Wasserfiguren. Diese Wasserorgel wurde nicht eingemottet, sondern 2015 mit moderner LED-Lichttechnik ausgestattet und sorgt für nostalgische Wonnegefühle. Und nur steinherzige, märchen-unaffine Zyniker*innen lassen sich im Angesicht der bunten Illuminationen in Gedanken zu einem abgewandelten Zitat Martin Kippenbergers hinreißen: »Ich geh jetzt in den Märchenwald, denn meine Pillen wirken bald.«