Gefeiert und prämiert in Cannes mit dem Preis der Jury: der außergewöhnliche Film »In die Sonne schauen« von Mascha Schilinski.
Das vielräumige Haus, das als sogenannter Vierseitenhof in der Altmark steht, können wir erkunden während einer wilden Verfolgungsjagd zwischen drei Mädchen und einer Magd, der die Kinder zuvor einen Streich gespielt hatten. Es bleibt der Schauplatz ein Jahrhundert hindurch. In ihm findet Kindheit statt, Krankheit und Sterben, Arbeit, Freude, sexuelles Begehren und Liebe. Dauer im Wandel.
Die Regisseurin Mascha Schilinski nennt ihren außergewöhnlichen Film ein Generationen-Drama. Ebenso lässt sich von einem Zeit-Drama sprechen – in dem Sinne, wie »Der Zauberberg« auch ein Roman über die Zeit als solche ist. Zugleich ist »In die Sonne schauen« ein emotionales Memoir – und in gewisser Weise Fortschreibung von Edgar Reitz’ »Heimat« mit anderen Mitteln und aus anderer Perspektive.
Schilinskis Methode ist wie das Blättern in einem Buch, vor und zurück, einhalten, nochmals nachschlagen, den Zwang von Anfang und Ende beiseite lassen. Ein Erzählen gemäß der Traumlogik, die aus realen Resten ein neues Bild zusammenfügt und ihre Motive und Muster, Requisiten und Utensilien zur freien Verfügung hat. Woran sich etwas festmacht, um es in anderem Zusammenhang aufzurufen und die Dinge miteinander ins Gespräch zu bringen, ist so geheimnisvoll – und trügerisch –, wie Gedankengänge es sind.
Vier Inseln im Strom der Zeit und ihre Bewohner*innen: Alma (geboren 1910), Erika (1940), Angelika (1980), Nelly, beinahe an die Gegenwart herangerückt. Mädchen und jugendliche Frauen in ihrem Familienverbund.
In den frühen Stunden des 20. Jahrhunderts, die wir aus Michael Hanekes Film »Das weiße Band« kennen, leben mehrere Generationen unter einem Dach, fromm, bieder, protestantisch streng und karg in gottgewolltem Gehorsam. Dunkel wie die Kleider ihrer Bewohner sind die Zimmer, mit knarzendem Holz, Kerzenlicht und schon von ihrem Gebrauch mürbe. Auf Fotografien blicken sich ein halbes Leben später Auge in Auge die Nachgeborenen an.
Unmerklich geraten die Zeitschichten in Bewegung wie bei einer sachten tektonischen Verschiebung. Wir erkennen den Wechsel an Kleidern, Frisuren, Gegenständen oder etwa dem Straßenbelag. Fabian Gampers Kamera fungiert als Teilchenentschleuniger. Weich, still und ruhig nimmt sich die episodische, beinahe essayistische Form aus, die aus Splittern, Partikeln, Fragmenten ihre Handlung montiert, die in die Menschen hineinhorcht und das scheinbar Alltägliche schildert, hinter dem jedoch der Raum des Gewesenen wie in einem Spiegel aufscheint und zur Ordnung ruft. Bewusstseinstrübung und Bewusstseinsschärfung sind nicht exakt voneinander zu trennen. Leute sitzen zu Tisch und essen, stehen um eine Leiche, gehen an den nahen See, um zu schwimmen, bestellen Hof und Land. Sie tun und verrichten. Und denken – wie Angelika – darüber nach, wo das Ich eigentlich ist, während man etwas tut.
Zugezogene aus Berlin schließlich renovieren das Haus, schlagen einen Kaminofen heraus, entfernen Altersspuren, während die Menschen der achtziger Jahre noch in den Möbeln der Vorvorigen wohnen. Einem noch halben Jungen, Fritz, muss das Bein amputiert werden, sein Schreien gellt durchs nächtliche Haus; in einer früheren Szene lag er als reifer Mann im Bett, während seine von ihm angezogene Nichte Erika ausprobiert, wie es ist, mit nur einem Bein an Krücken zu gehen und sich den Unterschenkel des zweiten hochzubinden.
Der Phantomschmerz des einen ist auch derjenige der anderen und überhaupt ein Grund- und Urgefühl dieser Figuren und ihres In-Spuren-Gehens. So leise, genau, bedachtsam und scheinbar unaufwendig der Film, so auch das Spiel vor allem der Darstellerinnen: Hanna Heckt als Alma, Lea Drinda als Erika, Lena Urzendowsky als Angelika und Zoë Baier als Nelly sowie all die Übrigen.
»In die Sonne schauen« erinnert an einen Roman von Vladimir Nabokov, eine Novelle von Henry James, eine Erzählung von James Joyce. Und ist doch ganz und gar Kino. *****
»IN DIE SONNE SCHAUEN«, REGIE: MASCHA SCHILINSKI, DEUTSCHLAND 2025,
149 MIN., START: 28. AUGUST