Bibliotheken, Bühnen und Museen, die Erinnerungs- und Soziokultur sowie die Freie Szene aller Sparten stehen vor riesigen Herausforderungen. Ukraine-Krieg und Pandemie, steigende Kosten für Personal, Material und Energie bei wachsender Inflation. Die Infrastruktur muss klimaneutral werden, die Institutionen diverser, inklusiver, digitaler. Die erste Antwort in den Wahlprogrammen lautet dazu: mehr Geld. Bei CDU wie SPD ist eine schrittweise Erhöhung der jährlichen Kulturausgaben um insgesamt 50 Prozent angekündigt. Also wird die Kulturförderung aus dem Landeshaushalt in den nächsten fünf Jahren voraussichtlich von aktuell 315 Millionen Euro auf 450 Millionen plus X steigen, denn eine der beiden Parteien wird den nächsten Ministerpräsidenten stellen: Vier Wochen vor dem Urnengang liegen die Union von Amtsinhaber Hendrik Wüst und die Sozialdemokraten von Herausforderer Thomas Kutschaty in den Umfragen ziemlich gleichauf um die 30 Prozent. Den Grünen an Rhein und Ruhr werden bis zu 18 Prozent der Stimmen vorhergesagt, der FDP 10, der AfD 7; die Linke wird es mit ziemlicher Sicherheit wieder nicht ins Parlament schaffen (2 bis 4 Prozent).
Auch die grüne Partei von Spitzenkandidatin Mona Neubaur verspricht eine »deutliche Erhöhung« des Kulturetats, die Liberalen von Vize-Ministerpräsident Jochen Stamp haben sich ein jährliches Plus von 20 Millionen Euro ins Programm geschrieben. In dem der AfD ist der Kulturetat kein Thema, aber mit der wollen die vier anderen Parteien eh keinesfalls koalieren. Bleiben also vier mögliche Regierungspartner, in fast allen denkbaren Konstellationen: GroKo, schwarz-grün oder rot-grün, Ampel oder Jamaika. In der Kulturpolitik liegen die möglichen Koalitionäre anders als in vielen anderen Politikfeldern inhaltlich nicht wirklich weit auseinander. Ob es um Mindesthonorare und mehr soziale Absicherung für Künstler*innen geht, um die bessere Abbildung der nordrhein-westfälischen Bevölkerung in Programm, Personal und Publikum von Kultureinrichtungen oder um die digitale Transformation der technischen Infrastruktur, der künstlerischen Produktion und der kommunikativen Instrumente – alle vier haben diese Zukunftsthemen auf dem Schirm, mit der ein oder anderen Abstufung.
Die kulturpolitische Programmatik der AfD besteht in NRW vor allem aus dem Bekenntnis zu einer »deutschen Leitkultur«, die laut Programm von »selbstverständlichen Werten, Normen und Traditionen« sowie einer »natürlichen Sprache« bestimmt wird. Beim einen wie beim anderen bleibt allerdings unklar, was das konkret bedeuten soll – und mit den inhaltlichen Konzepten wie dem praktischen Alltag der Kulturpolitik hat es keinerlei Berührungspunkte. Paradoxerweise liest sich beides vor allem als politische Vorgabe für die künftige Kulturförderung – was einen Absatz tiefer unter Verweis auf die grundgesetzlich garantierte Kunstfreiheit jedoch abgelehnt wird. Zu den zahlreichen Handlungsfeldern und Förderprogrammen des Kulturministeriums findet sich im Programm der AfD NRW dagegen kein einziges Wort.
Die alles entscheidende Frage jedoch beantwortet keine der vermutlich fünf Parteien, die auch im nächsten Landtag vertreten sein werden: Ganz aktuell kalkulieren Kulturinstitutionen mit Kostensteigerungen für Energie (Heizen, Kühlen, Licht, Transport) von über 30 Prozent und bei Material (Bühnenbau, Technik und Gebäudesanierung) von 50 Prozent. Dazu kommen die regulären Tarif- sowie die beabsichtigten und im Übrigen lange überfälligen Honorarsteigerungen für freiberufliche Künstler*innen. Die verdienen – nur zur Erinnerung – im Durchschnitt unter 1500 Euro im Monat. Brutto!
Diese unvermeidbaren Mehrausgaben sind jedoch weder aus den existierenden noch aus den geplanten Etats von Land und Kommunen zu stemmen. Und das bedeutet, ohne dass man Rechenkünstler*in oder Pessimist*in sein müsste: Verzicht! Verzicht auf Inszenierungen, Lesungen und Konzerte, Festivals und Tourneen, Neubauten und Extraprogramme. Doch das Wort Verzicht (Reduzierung? Besinnung auf das Wesentliche? Prioritätensetzung?) kommt in keinem Wahlprogramm vor. Die Kultur war gerade im strukturwandelgeschüttelten Nordrhein-Westfalen der erste Sektor, der das ökonomische Wachstumsdogma von Industriezeitalter und Kapitalismus lautstark hinterfragt, ja abgelehnt hat – und wird offenbar der letzte sein, die sich selbst davon verabschiedet. In der Kulturpolitik des Landes jedoch ist diese Notwendigkeit bislang nicht angekommen.