Es gibt elegantere Arten, um Textstellen zu markieren. Man könnte ein seidiges Lesebändchen sanft zwischen den Seiten platzieren. Leider verfügt nicht jedes Buch über diese bibliophile Sonderausstattung, und wenn, reicht es gerade mal, um eine Stelle zu markieren. Für weitere Textstellen müsste prophylaktisch jede Seite mit einem Lesebändchen versehen werden, was aber extrem unpraktisch wäre und dem Buch die Anmutung tibetanischer Gebetsflaggen verliehe. Gerade bei der Urlaubslektüre am Strand würden die Bändchen in der steifen Brise knattern. Genauso seitenschonend ist die Nutzung von Postkarten, Notizzetteln oder Kinokarten als Lesezeichen.
Wer derlei nicht zur Hand hat, muss zu einer alten Kulturtechnik greifen – dem Eselsohr, dem mutwilligen Umknicken der Seitenecke. Schon im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm ist das Eselsohr als »folium libri complicatum«, als »Merkzeichen im gelesenen buch durch einbiegen einer blattecke« zu finden. Die Grimms bezogen sich auf den Dichter Andreas Gryphius, der in seinen Versen »drein (in Büchern) setzt er manche hand und stern und eselsohr und durchflochten band« notierte. Der rustikale Vandalismus am gedruckten Werk kann damals aber nicht allzu verbreitet gewesen sein, dafür waren die Bücher einfach zu kostbar. Eine Lutherbibel ist eben kein Unterhaltungsroman vom Wühltisch, den man am Ende des Urlaubs voller Eselsohren, mit abgeschabtem Umschlag und Sandkörnern zwischen den Kapiteln in den Koffer pfeffert. Ob Suhrkamp-Leser aus literarischem Respekt weniger zum Eselsohr neigen als Bastei-Lübbe-Leser, ist noch nicht ausreichend statistisch erhoben. Möglich wäre aber, dass es Romane aus dem unsäglichen Buchdiscountergenre »Freche Frauen« öfter trifft als Werke von Nooteboom oder Rothmann.
Die geknickte, dreieckige Papierfläche, die in Deutschland nach den akustischen Organen des Unpaarhufers »Equus asinus asinus« benannt wurde, wird im englischen Sprachraum als »dog-ear« (Hundeohr) und in Frankreich »Corne« (Horn) bezeichnet. Die Spanier halten es da weniger tierisch und sprechen schlicht von einem »Doblez« (Knick). Dieser Knick macht den Leser zum Designer und ist entsprechend eine Selbstermächtigung über die Gestaltung. Im Eselsohr lässt sich der Charakter des Knickers erkennen. Da gibt es den Vorsichtigen und Sensiblen, der mit winzigkleinen Öhrchen dem Buch nur wenig Schmerzen zufügen will. Dann wäre da der kontrollierte Pedant, der darauf achtet, dass das Papier im exakt rechten Winkel gefaltet wird und der sich in seiner Freizeit wahrscheinlich auch mit Origami beschäftigt. Der Raffinierte hingegen entwickelt ein eigenes Systemdesign für Eselsohren, um eine Ordnungsstruktur aus diversen Größen und Faltwinkeln, die nur er versteht, bei der Hand zu haben. Dem Rabiaten ist es egal, wie das Buch nach vollendeter Tätigkeit aussieht, er würde auch einem E-Book ein Eselsohr verpassen. Seine Eselsohren sind schnell und schludrig gefaltet, in steilen Winkeln und unterschiedlichsten Größen, die schnell das Viertel einer Buchseite ausmachen. Hauptsache, er findet die Stelle schnell wieder. Welcher Typ man auch ist, solange es gedruckte Bücher aus Papier gibt, gilt bis auf weiteres: Kannste knicken. Muss man aber nicht.