In eine Welt der Fantasie: J. M. Barries Kinderbuchklassiker »Peter Pan«

Es war einmal – und es kann nicht so bleiben. Märchen schließen nicht immer mit dem harmonischen »und wenn sie nicht gestorben sind«, das irdische Glückseligkeit beschwört, befestigt und verlängert. Im scheinbar ewigen Weiter-So bzw. So-Weiterleben liegt eine tiefe Erkenntnis, die traurig stimmen, aber auch versöhnlich sein und Einverständnis mit dem Schicksal und seiner Notwendigkeit herstellen kann.
Peter Pan hat entschieden, nicht erwachsen werden zu wollen, und sich seine dauerhafte Fantasie-Welt in Nimmerland geschaffen, wo es, ganz wie in der wirklichen Welt, Freund und Feind, Recht und Unordnung, Abenteuer und Mangel gibt und darum auch etwas Wesentliches fehlt: das Glück der (mütterlich-weiblichen) Liebe. Als er das Mädchen Wendy Darling aufsucht und mitnimmt zu sich und seinen Verlorenen Jungs, glaubt er, diese Leerstelle besetzen zu können, die der Elfen-Irrwisch Tinkerbell nicht erfüllen kann. Aber beides geht nicht zusammen: der Wunsch, Kind und verantwortungslos zu bleiben, und die Sehnsucht nach ‚erwachsener’ Liebe. Man kann auch sagen: entweder romantisches Träumen oder das Realitätsprinzip, das nach seinem eigenen Zeittakt tickt – wie das den Käpt’n Hook verfolgende hungrige Krokodil, nachdem es einen Wecker verschluckt hat.
Peter Pan fasst einen Entschluss, so wie Wendy es auch tut. Sie müssen loslassen. Loslassen bedeutet Trennung. Aber die gemeinsam gemachte Erfahrung bleibt, was sie war – ohne zu altern. Wenn man James Matthew Barries Kinderbuch-Klassiker so liest, ist es eine sehr pädagogische Fibel wie Heinrich Hoffmanns »Struwwelpeter«. Aber man kann die Geschichte auch anders verstehen, als Fürsprache, ein Ideal zu bewahren: »für die Träume seiner Jugend Achtung zu tragen«, wie Schillers Marquis Posa sterbend seinem Freund Don Carlos ans Herz legt – auch wenn der Todgeweihte niemals mehr auf Erden Mann sein wird. So wie Peter Pan es nimmermehr werden will. AWI
J.M. Barrie: Peter Pan, mit Illustrationen von Robert Ingpen, Knesebeck Kinderbuch Klassiker, 216 Seiten, 24,95 Euro
Catherine Meurisses Buch über die Zeit nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo

Rund fünf Jahre ist es her, dass sich die Karikaturistin Catherine Meurisse zu spät auf den Weg zur Arbeit macht. Dadurch entkommt sie dem Attentat auf ihren Arbeitgeber – die Satire-Zeitung Charlie Hebdo – bei dem viele ihrer Kollegen und Freunde ermordet werden. In ihrer Graphic Novel »Die Leichtigkeit« erzählt Meurisse eindrucksvoll von ihrer Trauer und ihren Ängsten – und wie sie mit Hilfe von Kunst und Natur lernte, beides loszulassen. »Ich habe fest vor, schreibt sie, »schon auf das kleinste Anzeichen von Schönheit zu achten. Jene Schönheit, die mich rettet, indem sie mir die Leichtigkeit zurückgibt.« KS
Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit, Carlsen, 144 Seiten, 19,99 Euro
Zurück zum Glauben: Joris-Karl Huysmans Roman »Unterwegs«

»Wie war er wieder katholisch geworden, wie war es so weit mit ihm gekommen?« Um diese Frage kreist »Unterwegs«, der zweite Teil von Joris-Karl Huysmans Roman-Tetralogie um dessen fiktives Alter Ego Durtal, mit einer geradezu obsessiven Wucht. Immer wieder blickt dieser Durtal in sein Inneres und sucht dort nach Antworten für seine Hinwendung zum Katholizismus. Dass dabei die Kunst, die katholische Malerei ebenso wie die Musik, eine entscheidende Rolle spielt, steht außer Frage. Auch als Konvertit bleibt der frühere ›décadent‹ seinem Ästhetizismus treu. Seine Überlegungen zu sakraler Musik und mittelalterlicher Kunst entwickeln in Michael von Killisch-Horns neuer, erstmals vollständiger deutscher Übersetzung einen rauschhaften Sog, der den Katholizismus noch einmal in seinem verschwenderischsten Glanz erstrahlen lässt. SAW
Joris-Karl Huysmans: Unterwegs, Hersg. von Michael Farin und Michael von Killisch-Horn, belleville Verlag Michael Farin, Roman, 655 Seiten, 39,80 Euro
Irmgard Keuns Roman »Das kunstseidene Mädchen«

»Das war gestern Abend so um zwölf, da fühlte ich, dass etwas Großartiges in mir vorging«. So beginnt Irmgard Keuns 1932 erschienener Roman »Das kunstseidene Mädchen«. Darin träumt die aus einfachen Verhältnissen stammende Rechtsanwaltsgehilfin Doris von einem Leben »als Glanz«. Doris geht im Laufe des Romans nach Berlin, trifft sich mit Männern, tanzt in Bars – und rutscht immer tiefer in die Armut ab. Eine zeitkritische Geschichte über das Loslassen von Lebensträumen, klug, humorvoll und traurig zugleich. KS
Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, Ullstein Taschenbuch, 256 Seiten, 12 Euro
Peter Kurzecks Romanprojekt »Das alte Jahrhundert«

Die Wolken. Der Himmel. Die Mülltonnen, der leichte Regen. Das Badewasser, ein später Apfel. Einkaufen. Der Wechsel der Jahreszeiten. Es sind die kleinen, scheinbar unbedeutenden Dinge, die Peter Kurzeck zu einem langen, literarischen Erinnerungsstrom verdichtet hat. Mitte der 90er Jahre hat er mit seiner autobiografischen Romanreihe »Das alte Jahrhundert« begonnen. »Ein Kirschkern im März«, »Vorabend«, »Der vorige Sommer und der Sommer davor« – schon die Titel haben diesen typischen Kurzeck-Ton. Durch genaues Notieren und Niederschreiben die gelebte Zeit loslassen und sie so gleichzeitig konservieren – das klingt dann so: »Du gehst. Im Westend blühen die Forsythien. Ein Kind auf dem Gehsteig. In den Himmel vertieft. Fünf Schritte weiter die Mutter. Autoschlüssel schon in der Hand. Steht und wartet. Muss gleichfalls zum Himmel hin mit dem Blick. Wer wacht zuerst auf?« VKB
Früher im Stroemfeld-Verlag publiziert, sind Peter Kurzecks Bücher jetzt bei Schöffling & Co neu aufgelegt worden.