Hygieneregeln machen Oper beinahe unmöglich. Das innige Liebesduett auf Abstand? Trostlos. In Mozarts »Entführung aus dem Serail« müssten sich eigentlich dauernd Liebespaare nach langer Trennung ergriffen in die Arme fallen, um gleich wieder dramatisch getrennt zu werden. In Nikolaus Habjans Inszenierung übernehmen das nun Puppen, die zum großen Teil nicht sichtbar auf der Hinterbühne gespielt und live auf einen Gazevorhang projiziert werden. Die Sänger*innen bleiben auf der Vorderbühne in schwarzer Konzertkleidung auf Distanz.
Der gerade einmal 32-jährige, neue Hausregisseur an der Oper Dortmund erfindet dafür eine zusätzliche Handlungsebene: Auf der Vorderbühne sitzt ein kleiner Junge im Bett und erfindet die »Entführung aus dem Serail« als Gute-Nacht-Geschichte, die er seinem Vater oder großen Bruder und sich selbst erzählt. Nikolaus Habjan selbst spielt den älteren Gesprächspartner wie auch die Klappmaulpuppe des Jungen. Das hat viel Charme, kippt manchmal sehr elegant in Reflexionen über das Geschichtenerzählen und hat Witz, wenn der Kleine plötzlich den Dirigenten Motonori Kobayashi direkt anspricht und dafür verantwortlich macht, dass die Arie, die eigentlich kommen müsste, gestrichen ist. Auf der anderen Seite birgt diese Konstruktion auch die Gefahr, dass der Abend allzu kindgerecht daher kommt. Zwischenzeitig wirkt das Ganze wie ein Medley der schönsten Melodien mit nacherzählter Geschichte.
Den Mangel verwalten
Motonori Kobayashi hat gemeinsam mit Satomi Nishi eine reduzierte Orchesterfassung erstellt. Für ein Streichquintett, einen Schlagwerker, das Klavier und drei solistisch besetzte Holzbläser. Obwohl auch die Originalbesetzung ein Tasteninstrument vorsieht, wirkt das Klavier hier merkwürdig fremd, zu wuchtig und modern im kammermusikalischen Sound. Ein Cembalo oder Hammerklavier wäre statt des Stutzflügels wesentlich passender gewesen. Insgesamt schafft es die reduzierte Fassung nicht, eine eigene Qualität zu entwickeln – hier wird nur ordentlich der Mangel verwaltet. Hinzu kommt, dass sich die fünf Sänger*innen mit den akustischen Verhältnissen schwer tun. Die kleine Besetzung würde einen kammermusikalischen Ton erfordern, auf der anderen Seite ist der Saal der Oper groß und will gefüllt werden. Und dann verändert sich dessen Akustik auch noch, weil der Saal mit 300 Besuchern gerade einmal zu einem Drittel besetzt ist. Irina Simmes, Sooyeon Lee, Sungho Kim, Fritz Steinbacher und Denis Velev zeigen durchweg gute Leistungen. Aber durch die gegebenen Umstände bleibt der große Glanz aus und der Gesamtklang wirkt selten perfekt austariert.
Schwerer wiegt allerdings, dass das Puppenspiel kaum einmal wirklich dramatisch wird. Die charaktervoll gestalteten Stabfiguren – im Fall des Serail-Wächters Osmin mit Halbglatze, verkniffenen Augen und Zottelbart vielleicht etwas zu klischeehaft – tun eigentlich dann doch nicht mehr, als Sänger*innen, wenn sie von der Regie alleingelassen werden. Da werden Hände gerungen, da bebt die Brust, es wird mal über die Haare gestrichen. Für etwas optische Action muss der Live-Videoschnitt von Jakob Brossmann, der auch das Bühnenbild verantwortet, sorgen. Fast wirkt es, als wäre das Habjan selbst irgendwann bewusst geworden. Als zweifelte er an der Tragfähigkeit seines szenischen Konzeptes, kommen im letzten Drittel plötzlich die Sänger selbst mit Requisiten auf die Bühne und doppeln die projizierte Puppenhandlung. Wenn Pedrillo den Aufpasser Osmin betrunken macht, damit der Weg frei zur Flucht ist, stehen Steinbacher und Velev mit (leeren) Flaschen an der Rampe, prosten sich zu und Velev spielt zunehmendes Torkeln. Kurz vor Ende erscheinen die Sänger*innen auf halber Höhe hinter dem Gazevorhang, auf den nun neben den Puppen auch ihre Gesichter projiziert werden. Wenn das erzählen soll, dass erfundenes Märchen und reale Welt nun ineinander übergehen, dann ist das eindeutig zu wenig.
Schön geraten ist dann aber wieder der Schluss, in dem der mittlerweile schläfrig gewordene Junge die Geschichte nur noch schnell zu einem glücklichen Ende bringen will. Schnell geht es hier zum Schluss-Vaudeville – und dann in Welt der Träume.
Wieder am 6. September, 3., 23., 24., 30., 31. Oktober, 1. und 21. November, Oper Dortmund, www.theaterdo.de