Fortschritt hinter den Kulissen: An den deutschen Bühnen gilt ein neuer Tarifvertrag. Damit bricht auch für die Künstler*innen an den Stadt- und Landestheatern in NRW eine neue Zeit an – im wahren Sinne des Wortes.
Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Ihre Vorgesetzten informieren Sie immer erst um 14 Uhr darüber, wann Sie am nächsten Tag zur Arbeit zu erscheinen haben. Ob um 10, um 14 oder vielleicht doch erst um 16 Uhr? Auch ob Sie dann zwei oder sieben oder sogar elf Stunden malochen müssen, ob durchgehend oder in Etappen. Und wann Sie das nächste Mal frei haben? Puh, tja … das kann die Geschäftsleitung heute leider, leider noch nicht absehen. Sie arbeiten schließlich in einem kreativen Laden – da kann man sowas nicht vorausplanen.
Was wie ausbeuterische Zustände im Frühkapitalismus klingt, war bis zum Sommer dieses Jahres die Realität an deutschen Bühnen. Zuvor hatten die Gewerkschaften und der Arbeitgeberverband Deutscher Bühnenverein eine gefühlte Ewigkeit um die Reform des NV Bühne gerungen, also um einen Tarifvertrag für das künstlerische Theaterpersonal: Dazu gehören neben all jenen auf der Bühne auch Dramaturg*innen und Regieassistent*innen, Techniker*innen und Kostümbildner*innen, Presseleute oder Pädagog*innen. Für sie gelten seit dem 1. August neue Vorschriften zu Arbeits- und Ruhezeiten, freien Tagen und Urlaub. Ein zentrales Element: Es muss für alle verbindliche Wochenpläne geben; die tagesaktuelle Neudisposition von beispielsweise Probenzeiten darf nur noch Ausnahme und nicht mehr Regel sein. Denn ob die alleinerziehende Schauspielerin am nächsten Nachmittag einen Babysitter brauchen würde oder der Regieassistent seinen gebrechlichen Vater zum Arzt begleiten kann, das wussten beide bislang meist erst 24 Stunden vorher.
Mehr Planbarkeit
Vor allem für die Künstlerischen Betriebsbüros, die den Proben- und Vorstellungsalltag organisieren, ist das eine Herausforderung, während Regisseur*innen und Spielleiter*innen sich um die Flexibilität im künstlerischen Prozess sorgen. »Alle müssen vieles neu lernen«, kommentiert das die Geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins, Claudia Schmitz. Im Gegenzug gebe es einige Errungenschaften: »Die Planbarkeit für die Beschäftigten wird größer, wenn sie jetzt schon donnerstags erfahren, wie sie in der nächsten Woche arbeiten. Auch Ruhezeiten und freie Tage sind künftig verbindlicher.« Unter anderem soll jede*r mindestens acht Wochenenden pro Spielzeit komplett frei haben. »Ich finde vieles davon richtig und überfällig«, sagt Kirsten Uttendorf, die Intendantin des Landestheaters Detmold. »Gleichzeitig ist unser Tourneebetrieb eh schon detailliert über Jahre vorgeplant. Durch die neuen Regeln haben wir da jetzt noch weniger Freiheiten.« Mehr als die Hälfte seiner insgesamt 600 Vorstellungen pro Jahr zeigt das ostwestfälische Vierspartenhaus nicht auf eigenen Bühnen, sondern als Gastspiele im ganzen Land. Für die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA) markiert das neue Vertragswerk vor allem den Einstieg in die weitere Reform des NV Bühne, so deren zweiter Vorsitzender Raphael Westermeier: »Die Lebensumstände von Künstler*innen haben sich geändert«, erklärt der Schauspieler, der bis 2024 dem Dortmunder Ensemble angehörte, »dem muss sich unsere Arbeitswelt anpassen«. Schmitz, Uttendorf und Westermeier sehen die kommende Spielzeit als Lernphase, die noch für Nachjustierungen sorgen wird, bis alle Regelungen ab Mitte 2026 verbindlich sind. Dann sollte das Theater auch als Arbeitsplatz endlich im 21. Jahrhundert angekommen sein.