Wie Ebbe und Flut: »Amrum« von Fatih Akin startet in den Kinos. Besonders macht den Film das autobiografische Drehbuch von Hark Bohm.
Eine Insel im Meer, Sand, Dünen, viel Grün und Leere. Eine Ruheinsel? Nein, Flugzeuge am Himmel, die mit Getöse ihre Lasten abwerfen. Keine Bomben, die sind fürs Festland. Die Engländer kontrollieren bereits die Nordsee. Flüchtlinge aus Schlesien und Ostpreußen werden abgeliefert und müssen irgendwie untergebracht werden. Die »Polacken« stoßen auf Ablehnung, auch deren Kinder, die in der Schule von den friesisch sprechenden Eingesessenen verspottet und herumgeschubst werden. Im Frühjahr 1945 ist das Ende des Kriegs nahe, der Feuersturm vom Juli 1943 längst über Hamburg hinweggefegt, der auch das Haus von Nanning Hageners Familie niedergebrannt hat.
Vater Wilhelm, hochdekorierter Offizier und Autor braun-ideologischer Bücher zu Rassenkunde und Blut und Boden, ist in britischer Kriegsgefangenschaft; seine Frau Hille (Laura Tonke), ebenfalls stramme Nationalsozialistin, zog mit den Kindern und ihrer Schwester Ena (Lisa Hagmeister) zurück in ihr heimatliches Dorf auf Amrum. Auch »Pimpf« Nanning plappert die Parolen nach, aber ahnt, bei wem er seine Zunge hüten muss. Der Zwölfjährige (Jasper Billerbeck) und Hermann (Kian Köppke) sind Freunde. Als sie Melvilles »Moby Dick« lesen, sehen sie in Kapitän Ahabs Untergang Parallelen zu Hitler und Deutschlands Niederlage.
Perspektive eines Heranwachsenden
Noch spuken Begriffe wie Wehrkraftzersetzung und Standgericht, Volksfeind und Verrat in den Köpfen herum, während andere Leute wie die Bäuerin Tessa Bendixen (Diane Kruger) ‚Anti’ sind, Feindsender hören und für »Heil Hitler« nur Verachtung haben. Erst verkündet der Rundfunk pathetisch den Tod des Führers in der Reichskanzlei – und bei Hille setzen zeitgleich die Wehen ein. Doch bald tönt aus dem Radio amerikanischer Jazz.
Die Unschuld des Kinderblicks und der innere Zwiespalt dessen, für den alles, was man ihm beigebracht hat und wofür er Achtung tragen sollte, diskreditiert ist, verbindet diese frühen Erinnerungen, die deren Autor Hark Bohm für sein Leben prägen, mit denen in Siegfried Lenz’ 1968 erschienenem Roman »Deutschstunde«. Die gleiche Landschaft, das gleiche Milieu, ähnliche Konflikte und Gewissenskrisen, die Perspektive eines Heranwachsenden.
Eine Leiche liegt am Strand. Nanning rettet einen Flüchtling, der nicht schwimmen kann, vor dem Ertrinken. Der Bürgermeister erschießt sich. Hitlers Porträt ist blutbesudelt oder landet im Feuer. Die Jungen gehen auf Robben- und Kaninchenjagd, holen Gänseeier aus dem Vogelnest. Eier, Butter, Zucker und Mehl sind Mangelware und müssen organisiert werden. Weizenmehl gibt es höchstens auf Rezept. Der Bäcker kam von der Front ohne rechten Arm zurück. Aber der Himmel ist hoch und weit. Die Natur schert sich nicht um menschliche Gemeinheit, Grausamkeit und Unnatur. Die Stimmungsbilder, die »Amrum« aufruft, bleiben konstant in der Zeit, wie Ebbe und Flut.
Was den behutsam erzählten Film besonders macht, ist das autobiografische Drehbuch von Hark Bohm, der selbst im Jahr des Kriegsbeginns, 1939, in Hamburg geboren wurde. Der Jurist und Ehrenpreisträger des Deutschen Films ist einer der klügsten, treuesten und liebenswertesten Vertreter des Neuen Deutschen Films – als Regisseur (»Nordsee ist Mordsee«, »Yasemin«), als Schauspieler in zahllosen Filmen, mehrfach für Fassbinder, darunter »Fontane. Effi Briest«, »Die Ehe der Maria Braun« und »Lili Marleen« jeweils neben Hanna Schygulla, als Interessenvertreter des Films sowie als Lehrer, der auch für Fatih Akin zur wichtigen Bezugsperson wurde.
Und so wird der Epilog, in dem der greise Hark Bohm selbst vor dem Panorama eines Sonnenuntergangs an der See im Bild erscheint, zum großen stillen Memorial, auch wenn es nur eine kleine Geste ist – die eines Flüchtlingsmädchens für Nanning zum Abschied –, die vielleicht die Erinnerung in Gang gesetzt hat. ****
»Amrum«, Regie: Fatih Akin, Drehbuch: Hark Bohm, D 2025, 90 Min.,
Start: 9. Oktober.






