Neu im Kino: Einfühlsam und frei von Sensation erzählt Stéphanie Di Giusto die Geschichte von »Rosalie«.
In David Leans Klassiker »Lawrence of Arabia« hören wir in einem zentralen Moment folgenden Dialog: »Britain is a fat land, with fat people.« – »You are not fat!« – »No, I’m different.« »Ich bin anders«, sagt Thomas Edward Lawrence zu dem ihn befragenden arabischen Freund. Das ist die ganze Kinogeschichte in einem kurzen Satz. »I’m different.« Auch Rosalie ist anders. Anders, obwohl es auch sonst schon nicht leicht sei, Frau zu sein, wie die gescheite Rosalie feststellt.
Rosalie (Nadia Tereszkiewicz) muss und will an den Mann gebracht werden. Es kostet sie etwas – mehr als die 15.000 Francs, die ihr Vater dem Heiratskandidaten bezahlt. Sie betet um ihr Glück, sie will lieben, partout, deshalb auch möchte sie Kinder, weil sie sich in der Mutter-Kind-Beziehung bedingungslose Liebe erhofft. Doch sie fürchtet, abgelehnt zu werden wegen des Makels, den sie überpudert. Eine Laune der Natur hat ihr seit Geburt Körperbehaarung und Bartwuchs auferlegt, die sie unter hochgeschlossener Kleidung und Schminke und mit Hilfe von Rasur verbirgt.
PR mit Bart
Der Gastwirt Abel Deluc (Benoît Magimel), der Schulden hat bei Barcelin (Benjamin Biolay), dem unleidlichen Patron der Gegend, und eine Frau braucht als Hilfe für seine schlecht gehende Schenke auf einem Fabrikhof, wundert sich über die junge, feine Braut. Dann entdeckt er in der Hochzeitsnacht die Fehlbildung, die er »abscheulich« nennt. Zunächst wirft er Rosalie aus dem Haus. Aber Abel, der wegen einer Rückenverletzung aus dem Krieg ein Korsett tragen muss, selbst also ein Versehrter ist, besinnt sich und lernt, Rosalie zu schätzen.
Als sie von Abels finanziellen Nöten erfährt, ersinnt sie einen Plan. Sie lüftet ihr Geheimnis und macht es öffentlich, weil sie sich für das Lokal, modern gesprochen, PR verspricht. Sie bekommen Zulauf, Rosalie lässt sich bestaunen, bietet sogar an, ihren hübsch gestutzten blonden Bart anzufassen. Und sie blüht auf, lebensfroh, selbstbewusst, gewinnend – und erotisch.
Eine Attraktion, aber nicht auf dem Jahrmarkt, sondern inmitten einer beschränkten bürgerlichen Welt. Ob das gut geht? Ob nicht das Ressentiment Oberhand gewinnt, wenn das böse Wort vom »Ungeheuer«, von der »Affenfrau«, so sagt es der sie scheel ansehende Fabrikaufseher Pierre, den Diskurs bestimmt? Die Meute wird das Wild hetzen. Die Freiheit, die sich diese andere Emma Bovary nimmt, auch indem sie ihren Körper auf Fotografien ausstellt, stößt auf Gemeinheit und Abwehr.
Einfühlsam, würdevoll, sehr genau und frei von Sensation erzählt, leuchtet die Französin Stéphanie Di Giusto die seelischen Dunkelkammern von Scham, Demütigung, Gewissensnot und Anrecht auf Lust aus. Dabei lässt sie offen, welchen Weg ins Freie Rosalie und Abel wählen. ****
»Rosalie«, Regie: Stéphanie Di Giusto, Frankreich / Belgien 2023, 110 Min., Start: 19. September