Anfang der 1970er Jahre musste Erik af Klint eine Enttäuschung hinnehmen: Bei zwei namhaften Museen in Stockholm hatte der Neffe und Nachlassverwalter der Künstlerin Hilma af Klint (1862-1944) angefragt, ob Interesse bestünde, die damals nahezu unbekannten Werke der Schwedin in einer Ausstellung zu zeigen. Beide lehnten ab. Die teils großformatigen abstrakten Gemälde, in denen sich ein fantastischer Kosmos von organischen und geometrischen Formen entfaltet, seien, so wurde ihm bedeutet, mehr oder weniger ein Abklatsch der Bilder von Wassily Kandinsky.
Der russische Maler (1866-1944), dessen 1911 veröffentlichte Abhandlung »Über das Geistige in der Kunst« bis heute häufig zitiert (und wenig gelesen) wird, hat die »Erfindung« der abstrakten Kunst für sich reklamiert. Doch weist seine Patentanmeldung einen kardinalen Lapsus auf: Hilma af Klint, die wie Kandinsky Materialismus und Positivismus ablehnte und die gegenstandslose Kunst als Schauplatz des Übersinnlichen verstand, sie hatte sich schon mehrere Jahre vor Kandinsky vom abbildenden Charakter der Malerei verabschiedet. Seit 1906 entstanden ihre abstrakten Werke, Serien wie »Urchaos«, »Eros«, »Die Zehn Größten« oder »Altarbilder«.
Bahnbrechende Werke, die heute aus der Geschichte der Moderne nicht wegzudenken sind. Und nicht nur das: Hilma af Klint entfaltete eine beeindruckende Produktivität – sowohl künstlerisch als auch literarisch: Rund 1300 Gemälde umfasst der Nachlass der Malerin, die von 1882 bis 1887 als eine der ersten Frauen an der Königlichen Akademie der freien Künste in Stockholm studierte. Mehr als 26.000 Seiten Text gesellen sich hinzu.
Rund zwei Jahrzehnte, bevor die Surrealisten die »écriture automatique« als Methode entwickelten, um Zugang zum Unbewussten zu erhalten, erprobten Af Klint und ihre in der Gruppe »De Fem« (»Die Fünf«) zusammengeschlossenen Gesinnungsgenossinnen etwas Vergleichbares, wenn auch mit anderer Stoßrichtung: Um ihren Horizont zu erweitern, wandten sie sich bei ihren Séancen an die Geister von Verstorbenen. Deren oft kryptische Aussagen wurden in umfangreichen Notizbüchern protokolliert. Die Botschaften, die Hilma af Klint in Trance empfing, setzte sie später im Atelier handgreiflich um. Mehr als drei Meter hoch sind ihre größten Werke, die sie deshalb auf dem Boden malte, wie später Jackson Pollock. Angesichts solcher Dimensionen fällt einem ein Bonmot von Hans Platschek ein: »Das Geistige in der Kunst wird mit der Hand gemacht.«
Werk mit Sperrvermerk
Trotz Talent, Fleiß und Disziplin blieb die Malerin zu Lebzeiten eine Außenseiterin. Dank ihres Hangs zu Spiritismus und Anthroposophie genoss die Rudolf-Steiner-Verehrerin in esoterischen Kreisen größere Bekanntheit als im Kunstbetrieb. Wahrscheinlich einer der Gründe, weshalb ihrem visionären Werk die Resonanz so lange versagt blieb. Dass sich Hilma af Klint 1932 dazu entschloss, einen Teil ihrer Bilder und Aufzeichnungen mit einem Sperrvermerk zu versehen – erst 20 Jahre nach ihrem Tod, also 1964, sollte diese Hinterlassenschaft der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden –, verstärkte noch die Isolation des Œuvres.
Hält man sich all das vor Augen, darf eine Ausstellung der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen nicht zuletzt als ein Akt später Gerechtigkeit angesehen werden: Am Grabbeplatz pflegen rund 120 Werke von Hilma af Klint und Wassily Kandinsky von März bis August gutnachbarliche Beziehungen. »In unserer Ausstellung werden stilistische Parallelen zwischen den beiden Künstler*innen sichtbar«, erläutert Susanne Gaensheimer, seit 2017 Direktorin der Kunstsammlung. »Kandinskys späte Gemälde aus der Pariser Zeit werden den organischen, floralen Formen Af Klints gegenübergestellt.« Zu sehen sind auch Arbeiten der Malerin Anna Cassel und der Krankenschwester Thomasine Anderson – zwei zentrale Lebensgefährtinnen der Künstlerin.
»Träume von der Zukunft«, so heißt die Schau im K20. 1962 etablierte Gründungsdirektor Werner Schmalenbach die NRW-Landesgalerie als Ruhmesstätte der gegenstandslosen Malerei – Kandinsky kam dabei wie selbstverständlich zu Ehren. Schrittmacherinnen der Abstraktion dagegen waren in Schmalenbachs männerzentriertem Pantheon der Moderne nicht vorgesehen. »Werner Schmalenbach hat nur zwei Werke von Künstlerinnen erworben«, weiß Gaensheimer. »Durch gezielte Erwerbungen arbeiten wir seit 2017 daran, den Bestand sowohl um nicht-westliche Positionen der Moderne als auch um bedeutende Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts zu erweitern. Das Ergebnis ist, dass wir heute an einem Punkt stehen, an dem in manchen Sammlungsräumen bereits 50 Prozent der Werke von Künstlerinnen sind.«
Mittlerweile in vieler Munde
Durch Retrospektiven im Stockholmer Moderna Museet (2013) und im New Yorker Guggenheimer Museum (2018) ist Hilma af Klint mittlerweile in vieler Munde, jedenfalls was die Kunstöffentlichkeit angeht. Hierzulande hat Julia Voss daran wesentlichen Anteil. Die Kunsthistorikerin und ehemalige FAZ-Journalistin veröffentlichte 2020 eine vorzügliche Biografie zu Af Klint. »Die Menschheit in Erstaunen versetzen« entsprang einer Begegnung, die ebenfalls von Erstaunen geprägt war: »Die ersten Gemälde von Hilma af Klint«, erinnert sich Voss, »habe ich 2008 im Moderna Museet in Stockholm gesehen. Es war eine wirklich große Überraschung. Ich konnte die beiden Bilder – aus der Serie ‚Der Schwan‘ – überhaupt nicht einordnen. Dann wurde mir gesagt, wer sie gemalt hat. Ich war glücklich und wütend zugleich. Glücklich, weil es schön ist, Neues zu entdecken. Wütend, weil ich mir nicht erklären konnte, wie diese Künstlerin in Vergessenheit geraten ist.«
Studien im Archiv der Hilma af Klint Stiftung führten zu weiteren Entdeckungen: »Dort stieß ich auf ein Reiseskizzenbuch der Künstlerin aus Italien. Niemand wusste, dass sie in Italien war. Da wurde mir klar, dass es sich lohnt, weiter zu recherchieren und die Biografie zu schreiben.« Die aktuelle Düsseldorfer Ausstellung hat Julia Voss gemeinsam mit dem schwedischen Kunsthistoriker Daniel Birnbaum kuratiert – er ist Mitherausgeber des Werkverzeichnisses von Hilma af Klint. Seitens der Kunstsammlung NRW vervollständigen Susanne Gaensheimer und Agnieszka Skolimowska das kuratorische Team.
Af Klint und Kandinsky erscheinen in dieser Präsentation auf Augenhöhe. In der Tat gibt es manches Gemeinsame zwischen ihnen, nicht nur das Todesjahr – sie starben 1944. »Beide nahmen die Malerei als fortlaufenden Prozess wahr«, sagt Gaensheimer. »In ihren Zielen waren sie sich ähnlich, nämlich Kunst als Möglichkeit zu sehen für eine gesellschaftliche Veränderung. Auch ikonografisch gibt es mehrere Berührungspunkte zwischen den beiden: Kandinsky griff in Gemälden wie ‚Sintflut‘ auf biblische Themen zurück – eine der Serien von Af Klint heißt ‚Urchaos‘.«
Beide, ergänzt Julia Voss, »haben zentrale Schriften auf Deutsch verfasst. Sie hätten einander lesen können! Beide identifizierten sich auch mit der Figur des Heiligen Georg, der in der Volkskunst in Schweden und Bayern eine große Rolle spielte. Beide waren 45 Jahre alt, als sie ihre frühen Hauptwerke der Abstraktion schufen.« Die Rede ist von Af Klints vielleicht bester Werkserie, betitelt »Die Zehn Größten« (1907), und von Kandinskys 1911 entstandener »Komposition IV«. In Düsseldorf zählen diese Arbeiten zu den Highlights der Schau.
Wahlverwandtschaften, wohin man sieht
Die Wahlverwandtschaften zwischen den Künstler*innen, die sich vermutlich nie begegneten (obwohl Kandinsky 1915 nach Stockholm kam), sind damit nicht erschöpft: Die Malerei sahen beide als ein sinnliches Medium, das den Zugang zum Übersinnlichen bahnt, das Tuchfühlung mit einer anderen, höheren Welt ermöglicht. Kandinsky, der 1911 gemeinsam mit Franz Marc die idealistische Allianz »Der Blaue Reiter« schmiedete, schwärmte von »der geistigen Pyramide, die bis zum Himmel reicht«. »Vor allem zur Zeit des Blauen Reiter waren Kandinskys Interessen hin zur Theosophie sehr ausgeprägt, mit der Zeit ließen sie nach«, so Susanne Gaensheimer. Generell, so die Kunsthistorikerin, würde die spirituelle Seite der Moderne »bis heute unterschätzt«.
Derweil träumte Hilma af Klint von einem Tempel, in dem ihre Werke den ihnen gebührenden Platz finden sollten. Die Mystikerin der Moderne begriff sich als Medium, das Inspiration und künstlerische Regie-Anweisungen von höheren Mächten empfing. »Nimm Deine Palette und fang an. Bereite Dich auf eine Überraschung vor!«, so lautete beispielsweise ein Appell jener geheimnisvollen Gurus, die Hilma af Klint im Leben und beim Zeichnen und Malen beflügelten. Von den wichtigsten Influencern, denen die Künstlerin einen je unterschiedlichen Farbton zuwies, kennen wir sogar die Namen: Bei den Séancen, wo Af Klint mit ihren spiritistischen Gefährtinnen zusammentraf, sprachen Georg, Amaliel, Ananda und Gregor besonders vernehmlich zu der Künstlerin.
Um die Werke der Geisterbeschwörerin wertzuschätzen, muss man jedoch kein Spiritist sein. »Hilma af Klint«, sagt Julia Voss, »hat nie versucht, andere davon zu überzeugen, dass es die Wesen, mit denen sie kommunizierte, wirklich gibt. Wir können ihre Bilder ansehen, ohne auch nur darüber nachzudenken. Und der Grund, warum wir uns für sie interessieren, sind ihre großartigen und mitreißenden Gemälde. Sie war keine Missionarin, ganz und gar nicht.«
Vorreiterin von Duchamps Kofferkunst
Als Vorreiterin darf man Hilma af Klint auch in Bezug auf Marcel Duchamps »Museum in a Box« ansehen. In dieser berühmten »Schachtel im Koffer«, zusammengestellt 1935 bis 1941, hat der Patriarch der Konzeptkunst rund 80 Werkminiaturen im handlichen Format vereint. Ein Museum im Koffer richtete auch Hilma af Klint ein – allerdings schon 1919, also 16 Jahre vor Duchamps Coup. Zehn Alben, bestückt mit Schwarzweiß-Fotografien und winzigen Aquarellkopien von knapp 200 Gemälden, bestimmt in erster Linie für einen Empfänger: für Rudolf Steiner (1861-1925), den charismatischen Begründer der Anthroposophie, dessen Goetheanum im schweizerischen Dornach Hilma af Klint neun Mal besucht hat.
Mit ihrem Museum im Koffer, der »Gemälde für den Tempel« barg, hoffte sie bei Rudolf Steiner allemal auf Interesse zu stoßen, besser noch Verständnis zu finden, womöglich sogar Begeisterung. Doch der von vielen Künstler*innen umschwärmte Hohepriester der »höheren Welten« reagiert nur mit mäßiger Anteilnahme: Knapp, im Grunde nichtssagend Steiners Kommentare zu ihrer Kunst beim einzigen Zusammentreffen, das ins Jahr 1922 fällt.
1924 wendet sich Hilma af Klint erneut an Steiner – diesmal brieflich und zwar mit einer befremdlichen Frage: »Sollen die Gemälde, welche durch mich ausgeführt worden sind von 1906 bis 1920, und von welchen Sie Herr Dr. einmal einige gesehen haben, zerstört werden, oder sind sie irgendwo anwendbar?« »Mit grosser Ehrfurcht«, so lautet ihre abschließende Grußformel. Mehr Unterwerfung ist kaum denkbar. Eine Antwort erhält sie dennoch nicht. Symptomatisch irgendwie für den Werdegang dieser Künstlerin, die sich der Einzigartigkeit ihres Schaffens gewiss war und manches versucht hat, um andere davon zu überzeugen. Doch verliefen die meisten dieser Bemühungen im Sande.
Gleichwohl müssen wir uns Hilma af Klint als einen glücklichen Menschen vorstellen – verstand sie ihre Werke am Ende doch »ganz ausdrücklich als ‚Zukunftsbilder‘«, wie Julia Voss betont. Gottlob ist diese Zukunft angebrochen – die Ausstellung in der Kunstsammlung NRW liefert dafür einen eindrucksvollen Beleg.
»Hilma af Klint und Wassily Kandinsky. Träume von der Zukunft«
K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
16. März bis 11. August 2024