Das Ballett am Rhein erfreut zum Jahreswechsel mit einem »Dornröschen« in Düsseldorf: eine turbulente, märchenhafte Parodie und ein stilsicheres Ausstattungsballett.
Ein kleiner Junge sitzt zu Beginn im Schneidersitz vor dem geschlossenen Vorhang, die Ellenbogen vor sich aufgestützt, das Kinn in den Händen. Forsch schaut er ins Publikum. Niemand ahnt, dass der kleine Kerl das Zeug zum Helden hat, ja zum Prinzen. Aber das dauert noch knapp 100 Jahre. Und mit dem Wachküssen ist es heute so eine Sache – das wäre ein Übergriff. Deshalb klingelt ein Wecker. Bridget Breiner wirft in ihrer Neufassung von Tschaikowskys »Dornröschen« in der Düsseldorfer Oper einen so kritischen wie amüsanten Blick auf den Klassiker. Dabei wendet sie sich ab von Petipas und Iwanows Urfassung von 1890, hin zu den Gebrüdern Grimm.
Die Chefchoreografin entwickelt schräge Ideen. Der Junge ist der Sohn von Carabosse, der bösen Fee (Sophie Martin). Das kam so: Ein geschmeidiger Tänzer (Alejandro Azorín), kostümiert in Schwarz-Weiß, fungiert als Erzähler, der das Kind durch die Handlung führt. Der Kleine bekommt Mitleid mit der bösen Fee, die ja wegen des fehlenden 13. Tellers nicht mit den anderen Feen – hier sind es wie bei den Grimms weise Frauen – zur Taufe der Prinzessin eingeladen wird und deshalb den Fluch über das Baby ausspricht. Da lässt der Erzähler ihn in das Märchen als deren Sohn eintreten.
Die Handlung schlägt Kapriolen: Die – sympathische – Carabosse und Sohn Désiré wachsen Wand an Wand mit der Königsfamilie auf. Szenisch hat Bühnenbildner und Ausstatter Jürgen Franz Körner das gut gelöst und drehbare Kulissen gebaut. Auf der nachtblauen Seite wächst der wilde Junge auf, auf der schlossähnlichen Seite das behütete Mädchen. Während hier die Alleinerziehende die Spindel wetzt, spielt dort der Hofstaat mit dem Mädchen. Die Kostüme sind opulent und verändern sich mit den Jahrzehnten.
Am 15. Geburtstag der Prinzessin tragen die weisen Frauen Cocktailkleider, extravagante Hüte und Hochfrisuren im Stil der 1950er Jahre. Leicht fließt eine Szene in die nächste. Ein Fest. Als die kindliche, zerbrechliche Prinzessin (Chiara Scarrone) und der kraftvolle Désiré (herausragend: Lucas Erni) miteinander tanzen, knistert es leise.
Mit ihrem Fluch hat sich die böse Fee selbst in den Finger gestochen: Auch ihr Sohn sinkt vor einem Schattenriss mit Bäumen und weißem Mond aufs Lager. Als er, frühzeitig geweckt durch den Erzähler, erwacht und erkennt, dass seine Mutter die Nachbarin in ihrem Rosen-Pavillon auf dem Gewissen hat, stößt er sie wutentbrannt von sich.
Proppenvoll ist dieser Abend: Märchensymbolik, szenische Andeutungen, Humor und Ironie. Der Thron wird zum gynäkologischen Stuhl, die silbernen Zauberstäbe gleichen Schwertern, das Königspaar verkommt zu schlaffen Eheleuten, denen Dornröschen den Rücken kehrt. Albern wird es, wenn der Frosch als Prophet der Königin auf den Po klatscht. Und dann sind da die vor Kraft strotzenden Helden, die das schöne Kind retten wollen – ausgestattet mit Pfeil und Bogen, Speer, Dreizack, Pistole, Gewehr und Beil. Die Fülle an Einfällen macht spätestens im zweiten Akt schwindelig.
Einige von Bridget Breiners so sensiblen wie virtuosen choreografischen Sequenzen, insbesondere die für das hinreißende Paar Dornröschen/Désiré, wünschte man sich vor ruhigerer Kulisse. Musikalisch irritiert der Abend. Gewöhnungsbedürftig, dass viele Sequenzen der Originalkomposition erklingen – aber nicht zu den entsprechenden Tanzszenen. Doch die Bearbeitung der Übergänge und die Neukomposition im finalen psychologischen Teil von Tom Smith fügen sich geschmeidig in Tschaikowsky hinein. Die Düsseldorfer Symphoniker unter Yura Yang kosteten den Reichtum der hochkomplexen Partitur aus. Der Star des Abends? Das gesamte Ensemble!
BIS 2. JANUAR, OPERNHAUS DÜSSELDORF






